Wunderkerzen

Es war einmal ein Erfinder namens Wunder. Der erfand ein ummanteltes Stäbchen, das Funken spie, wenn man eine Flamme dran hielt, eine Art Feuerwerk am Stiel, nur ohne knallen. Grund genug für den etwas eitlen Wunder, die Kerze nach sich zu benennen. Und plötzlich, wär hätte das gedacht, war er in der ansonsten stockkonservativen Kerzenbranche ganz vorn. Selbst innovative Kollegen wie die Herren Nebel und Tropf mit ihren Kreationen staunten. Die Wunderkerze indes trat einen beispiellosen Siegeszug an, und ihr Wirken sollte nicht lange auf Weihnachtszeit und Partykeller beschränkt sein.

Denn es begab sich, das Menschen Wunderkerzen in diesen butterbrotpapierähnlichen Tütchen horteten, sie in Popkonzerte von Barcley James Harvest trugen und zu den Zeilen „Valley´s deep and the mountain´s so high“ wie verrückt durch die Luft schwenkten. Fortan trugen Menschen ganze Köcher voller Wunderkerzen in Konzerthallen, um selbst schlimmste Schnulzen in ein Lichtermeer zu tauchen. Herr Wunder rieb sich erst die Augen und dann die Hände.

Heute arbeitet Herr Wunder für die Rüstungsindustrie, und er muss den Niedergang seiner großartigen Erfindung mit ansehen. In Konzerten recken die Menschen immer noch die Arme, wenn die Ballade dröhnt, doch ihre feuchten Finger umklammern keine funkelnden Drahtstängel mehr, sondern teure Fotohandys. Sie alle machen Bilder, nicht weil die Bilder gut sind, sondern weil es alle machen. Und auch Herr Wunder weiß: Solange man mit seinen Kerzen nicht telefonieren kann, wird sich das auch nicht ändern. Im Gegenteil: Bereits in diesem Winter sollen die ersten Weihnachtshandys auf den Markt kommen, die man zum Fest einfach abbrennen kann. Das ist doch mal was.

Quelle: Hannoversche Allgemeine Zeitung – Verfasser: Imre Grimm


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